Voll erwischt

22. November 1990 | Category: Freier Fall

Frohen Mutes beschließe ich, die mir in einem halbstündigen Gespräch mit meinem Reitlehrer aufgegebenen ‘Kleinigkeiten’ für das allgemeine Reiterleben zu erwerben. Hiermit sind, so mein Reitlehrer, nicht die riesigen Mengen von alkoholischen Getränken, 10er Packs Kartenspielen oder großverbrauchereinheiten Kondome gemeint, die ich im Laufe meiner Reiterkarriere benötigen würde (was mich zu einem vor Begeisterung am Boden zuckenden Bündel Mensch werden ließ), sondern ganz alltägliche Dinge wie Anbindestricke, Peitschen, diverses Lederzubehör oder auch Hose mit Lederbesatz. Meine hektisch angefertigten Notizen waren entsprechend lang, fiebrig verbrachte ich die gestrige Nacht in Erwartung des heutigen Einkaufsbummels. Eben war ich noch kurz in meiner Bank, man weiß ja nie, was einen so erwarten. Meine Ausstattung umfaßt somit neben einem nennenswerten Bargeldbestand, diversen V- und EC-Schecks, Kreditkarten aller größeren Firmen und einem kleinen Goldbarren auch noch Tauschwaren aller Art, auf das sorgfältigste von mir ausgewählt und katalogisiert.

Verdammt, woher bekommt man den nun all diese Sachen? Habe ich doch glatt vergessen zu fragen. Aufgeregt rufe ich im Reitstall an:

“Guten morgen, kann ich bitte Herrn Kubel sprechen?”

“Is´n da?”

Sofort erkenne ich die verschlagene Stimme des Kneipenwirtes vom ‘Reiterstübchen’.

“Der Vincent Berger, Glück Ihnen und Ihrer Familie”

“Hää?”

“Ich hätte gerne den Herrn Kubel gesprochen. Den Reitlehrer…”

“Weißte eigentlich, wie spät es ist?”

“Äh, moment, es ist jetzt genau 10 Uhr 55, warum?”

“Viel zu früh, Uwe kommt erst spät.”

“Können dann Sie mir vielleicht ein Reitgeschäft empfehlen” spreche ich in die nunmehr tote Leitung. Ein nerviges Tuten bestätigt meinen Verdacht: Herzinfarkt. Der gute Mann ist am Telefon verstorben. Ach ja, sterben müssen wir alle einmal. Nachdem ich mit einem diabolischen Lächeln unter dem Namen Kubel  die Feuerwehr, fünf verschiedene Kranken­häuser und Ärzte sowie ein Bestattungsunternehmen und die Polizei angerufen und über ein plötzliches Ableben im ‘Reiterstübchen’ unterrichtet habe, packe ich das Problem nunmehr anders herum an: eine gute Freundin von mir, von deren Hintern ich bereits einmal leckere ChickenMcNuggets  gefrühstückt hatte, hatte doch mit diesem Reiten auch mal zu tun gehabt. Zumindest erinnere ich mich daran, bei ihr zuhause einen Sattelbock sowie diverse Lederpeitschen gesehen zu haben. Voller spontaner Begeisterung ermittele ich anhand meines ‘private Briefe’-Ordners Nr. 5 und einem ausgefeiltem Index-System ihren Vornamen. Susanne, ja richtig, ach war das nett. Innerhalb von Sekunden finde ich ebenfalls ihren Nachnamen und ihre Telefonnummer heraus.

“Hier spricht die automatische Susanne Voss. Ich bin im Moment leider nicht zuhause. Sie können sich aber gerne mit dem Band unterhalten. Ich piepse jetzt.”

Auflegen? Nein, lieber hinterlasse ich eine Nachricht, vielleicht kommt sie ja bald Nachhause.

“Hallo, äh, Susanne, ich spricht Vince…” beginne ich wie üblich verlegen zu stammeln.

“HALLO VINCENT ICH BIN ZUHAUSE” schallt es mir so laut ins Ohr, daß ich um ein Haar einen Gehörsturz bekomme und vor Schreck das kleine Strichmännchen, daß ich immer zu zeichnen beginne, wenn ich mit einem Anrufbeantworter telefoniere, mit einem Federstrich enthaupte.

“Mensch Vincent, das ist ja toooolllll das Du mich anrufst, ich warte ja schon ewig…” – auf einmal erinnere ich mich an Susanne ganz genau, lege den Hörer zur Seite und gehe in die Küche um mir eine Stulle zu schmieren. Bereits kauend kehre ich zum Telefon zurück.

“…und die Sabine hat mich letzten Monat auch gefragt, ob wir uns eigentlich mal wieder…” – ach jetzt habe ich doch was zu trinken vergessen. Nur Minuten später verlasse ich die Küche mit einem frisch ausgepressten Orangensaft, nehme kurz den Hörer auf, rufe ein spontanes “Ja, wirklich?” hinein und schalte daraufhin erst einmal die 26 Kanäle meines Fernsehprogrammes durch. Mist, gibt schon wieder nix. In Gedanken gebe ich Susanne noch 120 Sekunden, schließe für diese Zeit die Augen und denke an nichts bestimmtes.

“…ach du armer, immer rede ich nur von mir. Warum hast Du denn nun eigentlich wirklich angerufen?” bestätigt Susanne mein Timing.

“Susanne, ich wollte nur Deine Stimme hören, eine schnelle Verabredung mit Dir ausmachen und Dich nach einen Geschäft fragen, in dem ich so Lederpeitschen, Gummistiefel mit hohem Schaft und so´n Zeugs bekommen kann.”

Stille. In diesem Zustand habe ich Susanne ja noch nie erlebt. Noch ein Todesfall? Aus dem Hörer klingt dann schweres Atmen.

“Susanne? Bist Du noch da?” erkundige ich mich.

“ohhrmpff, ja, ich, ahhh, ja ich bin noch dran”. Wieder dieses schwere Atmen. Langsam wird mir die Sache unheimlich. Gerade als ich beschließe, wiederum unter dem Namen Kubel diesmal einen Seelsorger und den Scientology-Notdienst zu verständigen antwortet sie mir wieder mit normaler Stimme

“Vincent, ich erkenne Dich nicht wieder. JA, wir treffen uns, wann Du willst. Ein gutes Geschäft kann ich Dir auch empfehlen – gehe doch zu ‘Leather & Sluts’ in der Marienstrasse, die haben ALLES was Du Dir vorstellen kannst…” – ihr versagt die Stimme, aber egal, ich habe ja erfahren,  was ich wollte.

“Bis bald Susanne, ich komm bei Dir vorbei” sage ich, füge in Gedanken ‘wenn ich mir Ohropax gekauft habe’ hinzu und beende das nunmehr dreißigminütige Gespräch. ‘Leather & Sluts’ ? Nie gehört. Etwas komischer Name. Aber was soll’s? Morgen abend habe ich meine nächste Reitstunde.

Innerhalb von Sekunden befinde ich mich im Auto und suche im Stadtplan nach der Marienstrasse. Ziemlich im Zentrum, da soll es ein Reitgeschäft geben? wundere ich mich ein wenig als ich bemerke, daß  die Marienstrasse in etwa parallel zur Reeperbahn verläuft. Aber die Grundlagen heutzutage eine erfolgreiche Geschäftstätigkeit auszuüben sind wohl von niemanden mehr nachvollziehbar, also nix wie hin. Nach längerem Suchen finde den Laden: ein kleines Geschäft, von außen nicht einsehbar, die Fenster und Türen sind geschwärzt. Unsicher beobachte ich die Strasse, als ein Mann plötzlich die Tür aufstößt und das Geschäft verläßt – aus seiner Plastiktüte ragt unzweifelhaft eine Reitgerte hervor, noch etwas länger als diejenige, mit der mein Reitlehrer vor kurzem ein aufsässiges Pferd zur Räson brachte (es hatte sich erdreistet, nicht auf Anhieb über eine mannshohe Hürde springen zu wollen). Also bin ich hier richtig. Endlich beruhigt steige ich aus dem Auto und öffne die Tür.

“AUF DIE KNIE, SKLAVE” donnert es mir ohrenbetäubend entgegen. Ich schließe mit dem Leben ab, bedenke kurz die vielen Dinge die mir nun für immer verschlossen bleiben, würdige in diesem Zusammenhang insbesondere die noch ungeöffnete Tüte Kartoffelchips in meinem Küchenschrank und falle auf die Knie. Hat nicht auch einst Willy Brandt diesen Ruf verspürt, hervorgestoßen von Millionen gequälter Seelen? Erst jetzt kann ich ihn vollständig verstehen und tröste mich ein wenig an dem heroischen Bild, daß ich hier, vor den Augen der Welt, abgebe. Seht her, auch bin ein Büßer, streuet Asche auf mein Haupt und verbrennt mein Haus.

“NIMM DIES, DU WIEDERLICHER, STINKENDER EIMER VOLLER SCHEISSE!!!” wird mein letzter Rest an Selbstachtung zerstört. Dieser investigative Journalismus, wirklich, die Tatsache das ich seit drei Tagen keine Dusche mehr genommen habe hätte hier nicht Sprache kommen müssen….

“AHRGGGGGHHHHHHH” stoße ich einen Schmerzensschrei aus. Moment. Stoße ich einen Schmerzensschrei aus? Warum denn das?

“UHHHHGGGGGGGUUUUUAAAAAAAHHHHHH” tönt es wieder.

Das war doch nicht ich?! Langsam öffne ich die zugekrampften Augen. In einer Ecke läuft ein Fernsehmonitor. Auf dem Bildschirm spielen sich Szenen unbeschreiblicher Grausamkeit ab – gerade wird einem nackten Mann von einer ganz in Leder gekleideten Dame etwas in den Mund gestopft. Erinnert mich fatal an meine kürzlich erworbenen Arztsocken geht es mir durch den Kopf. Auch die Reaktion des armen Opfers scheint diesen schlimmen Verdacht zu bestätigen – verzweifelt wirft es den Kopf hin und her, die Augen Quellen wie bei einem Senfgasangriff hervor. Ich richte mich auf und räuspere mich kurz, woraufhin ein kleines Männchen mit freiem Oberkörper erschreckt hochfährt und endlich den Videorecorder ausschaltet; der Fernseher bleibt jedoch an und zeigt nunmehr eine Folge ‘California Clan’, einer meiner Lieblingsserien. Fasziniert starre nunmehr ich auf den Bildschirm. Das Männchen folgt meinem Blick, sieht gerade Mason in das Bild kommen, schlägt die Hände erschreckt vor das Gesicht, stößt ein ‘Gnade, gnade’-Wimmern aus beendet das Programm mit der Fernbedienung. Banause, gemeiner.

Langsam stelle ich fest, daß dies nicht die Sorte von Reitgeschäft ist, mit deren Verkäufern ich mich auf ein gemütliches Feilschen gefreut hatte – die hier erhältlichen Artikel schienen keinen konkreten Zweck zu haben. Hier z.B., dieses herrlich gearbeitete Halsband, viel zu groß, solche Hunde gibt es ja nicht mal in Neufundland. Das Männchen kommt heran – sein freier Oberkörper wird anscheinend nur Mithilfe zweier durch die Brustwarzen gestochener Tigerzähne zusammengehalten, die mit einer Kette verbunden sind, wohl um dem ganzen wenigstens etwas Stabilität zu verleihen.

“Guten Tag” spreche ich in eine andere Richtung um ihn nicht umzuwehen.

“Was kann ich für Sie tun?” fragt er mich aufdringlich, als würde er nicht bemerken, daß Selbstmord die einzige Möglichkeit ist meinen Wünschen zu entsprechen.

“Sehen Sie mal, da oben an der Decke, ein ganz großer Falter!” stoße ich wie erschreckt hervor, hake während er (ängstlich) nach oben schaut, den an einer stählernen Halterung befestigten Karabinerhaken an der Kette zwischen den Tigerzähnen fest, versetze dem Männchen einen schnellen Magenhieb, wende auf dem Absatz und verlasse fluchtartig das Geschäft. Während ich noch zum Auto hetze vernehme ich ein bestialisches Geschrei  und murmele leise “Auf die Knie, Tiger von Bangladesch”.

Das hat jetzt zwar eine unmenge Spaß gemacht, mir jedoch in keinster Weise weitergeholfen. Reitsachen möchte ich kaufen. Habe ich mich vielleicht zu undeutlich ausgedrückt? Plötzlich denke ich an die tolle Werbung für die Gelben Seiten: passieren nicht auch hier den Menschen die tollsten Mißgeschicke, weil sie den/die falschen gefragt haben? Klaro, also auf in die Gelben Seiten geschaut.

“Ach, mit Gummistiefeln sollten Sie gar nicht erst anfangen, besser gleich Lederstiefel” lautet denn auch nur wenig später der Rat einer gutmeinenden Verkäuferin in einem hervorragenden Reitsportfachgeschäft. Ich habe bereits hinter mir: eine Reithose, braun, ganzlederbesatz, Preis: Geschäftsgeheimnis. Ein paar Wildlederreit­handschuhe, Preis: hoch, aber unbekannt. Einen gefüllten Putzkasten mit sinnvollen Dingen wie Bürsten, Hufkratzern, Lappen und Erste-Hilfe-Kit. Preis: die Wurzel aus der Summe der im Laden erhältlichen Gegenstände multipliziert mit dem Alter der Verkäuferin (uiuiuiuuui…). Sowie einen aus Glitzerperlen bestehenden Stirnriemen der “Das sieht einfach toll aus”-Marke. Jetzt also die Reitstiefel. Der Preisunterschied zwischen Leder- und Gummireitstiefeln bewege sich lediglich auf dem Niveau zwischen einer Zwei-Zimmer-Wohnung in guter Wohnlage und einem Einkaufswagen. Trotzdem bleibe ich unentschloßen.

“…die Turnierreiter haben alle Lederstiefel” werden meine Zweifel in eine felsenfeste Meinung umgewandelt. Natürlich will ich Lederstiefel. Ich bitte darum, Zahlen zu dürfen. Auf dem Weg zur Kasse muß ich zwar noch diese oder jene Kleinigkeit erwerben (“alle Reiter besitzen eine goldene Anstecknadel” und “wenn man diesen handgearbeiteten Sattelgurt aus reiner Seide nicht verwendet passiert dem Pferd rein garnichts”), aber insgesamt nichts dramatisches mehr. Die freundliche Frau erstellt die Endabrechnung. Als ich aus meiner Ohnmacht wieder erwache ist bereits alles fix und fertig eingepackt. Um wenigstens noch genügend Bargeld zum Tanken übrigzubehalten versuche ich, doch noch einen kleinen Tauschhandel:

“Sehen Sie hier, diese kleine Kaffeemaschine, ist doch bestimmt gut für einen Handschuh”

Ein Stoß an mein schlimmes Knie läßt mir die Kaffeemaschine als nicht sooo geeignetes Tauschobjekt erscheinen

“Oder dieses herrliche Sofa, kaum drei Jahre alt…”

Ein heiles Knie zwischen meinen Beinen läßt mich nach meinem Sofa sehnen

“…ein wirklich toller Perser-Teppich, den ich persönlich in Kalkutta…”

‘Die Faust im Nacken’ beschreibt meinen Zustand nur äußerst ungenügend

“…wenn Sie vielleicht diese antike Vase…”

Nicht einmal Mike Tyson könnte phantasievollere Figuren aus meiner Nase kneten

“……….vielleicht…wenn Sie….bitte…mein Kühlschrank”

Ihre linke Brust trifft mich am Kinn, ich schlage längsseits-querwärs hin.

Etwas später stehe ich wieder halbwegs gerade, aber ohne jedes Bargeld, Schecks und Goldbarren vor der nunmehr verschlossenen Tür des Reitsportfachgeschäftes. Ein Schild ist zu sehen: “Wegen Urlaub geschlossen”. Ich gönne der qualifizierten Fachverkäuferin ihren verdienten Urlaub, ärgere mich ein wenig, keinen Gegenstand meines Hausstandes hier unter die Leute gebracht zu haben und beschließe, jetzt aber direkt zu Susanne fahren und mit ihr eine intensive Unterhaltung über sexuelle Gewohnheiten im allgemeinen und ihre Sammlung an Lederpeitschen im besonderen zu führen.


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