The first cut is the deepest

22. November 1990 | Category: Freier Fall

Da steh ich nun also. Bereit, die erste Reitstunde anzutreten. Noch bin ich unsicher, ob ich es wirklich wagen soll. Wie werden die Menschen hier auf mich reagieren? Wird es zu hysterischen Ausbrüchen wie bei meinen Fans auf dem Südwall kommen wenn ich auflaufe? Werden meine Gegner beim Gedanken an meine mit animalischer Kraft vorangetragenen Angriffe noch Wochen später denken? Wie wird sich der Trainer, ach ja, hier “Reitlehrer” genannt, verhalten? Hoffentlich werde ich nicht ausgewechselt…

Vor mir das Eingangstor. Ein kleiner Schritt für mich, ein großer für den Sport. Einer der besten will ich werden. Was kann am Herumhoppeln auf so einem Zausel schon so schwierig sein, echter Sport für weiche Männer. Und ich mittendrin. Oh man. Werden meine Freunde mich jetzt für eine Memme halten? Muß ich in Frauenklamotten auf Partys gehen um noch eingeladen zu werden? Oder schlimmer noch, etwa in REITHOSEN??? Bestimmt feiern diese Reiter nie. Bierernster Sport, wette ich drauf. Naja, ok, Mädchen gibt es wohl genug, das ist gut. Aber ob die außer Pferden noch was anderes im Kopf haben? Und wenn, dann bestimmt nur vor Sonnenuntergang-Tapeten bei Räucherkerzen Musik von Barcley-James-Harvest anhören. Also bin ich tot. Na gut, dann aber bitte mit Genuß.

Bereits die Eingangstür bereitet mir einige Schwierigkeiten, da es sich nicht wie üblich um eine normale Türklinke handelt sondern um einen kleinen -wie könnte es anders sein- Pferdekopf. Um den Eingangsbereich herum halten sich viele Menschen auf und ich will nichts falsch machen. Was also tun? Die Ohren nach hinten verbiegen oder lieber ein wenig an der langen Oberlippe schnabbern? Den Kopf wie zum Genickbruch seitwärts drehen oder in eine demütige Vorderlage bringen? Diese Frage erledigt sich glücklicherweise von alleine als sich die Tür von innen öffnet und eine Familie, gesamtlebendgewicht aller vier Personen, zwei davon noch Kinder, mindestens 250 kg. Sie in hautengen Reithosen, er in Jeans, heraustritt. Toller Sport den ich mir da angelacht habe. Vor mir befindet sich nun das “Reiterstübchen”, wie mir ein Schild über dem Eingang zur Gaststätte verrät. Alternativ stehen noch “WC” und “Ausgang” zur Verfügung. Schweren Herzen verzichte ich auf die Freuden des WC´s, versage mir den Ausgang und betrete das Reiterstübchen.

Vor mir öffnet sich eine neue Welt mir ungeahnten Möglichkeiten. Mein zunächst mißtrauischer, aber aufmerksamer Blick zeigt mir, von links nach rechts:

Kurzum: ich war Zuhause! So versöhnt mit meinem Schicksal rücke ich meine Hose zurecht, atme tief durch und trete entschloßen auf den Mann hinter dem Tresen zu.

“Guten Tag, mein Name ist Vincent Berger, ich hatte angerufen und mit einem Herrn Kaps telefoniert” beginne ich die einleitenden Begrüßungsworte, worauf mir wortlos ein Kurzer herübergeschoben wurde. Bin ja nicht blöd denk ich mir und kippe diesen ungefragt auf Ex herunter. Der Mann hinter dem Tresen wird gesprächig:

“Ja hallo, jaja, da san´s scho richtig hier. Der Herr Kaps sitzt dort drüben. Macht drei-fünfzig” wird mir mitgeteilt, während ein achtloser Daumen vage in Richtung der alten Saufnase zeigt. Im Hintergrund höre ich von der Gruppe der Kartenspieler soetwas wie “neue Kunden, neue Runden” und lege leicht verärgert über meine Gutgläubigkeit fünf Mark auf den Tresen mit einer Miene, die andeutet “stimmt schon”.

Noch immer in dieser Hochstimmung gehe ich schnurstracks zu der Saufnase, aehm, Herrn Kaps hinüber und stelle mich wiederum vor, worauf überraschenderweise der glasige Blick einem munteren, aber auch erfahrenen Blick weicht und eine erfrischende, kräftige Stimme mir antwortet:

“Jungchen, da biste ganz richtig hier. Ich bin der Uwe, bin hier der Reitlehrer.”

Ein Coach, mein Coach gratuliere ich mir selbst. Endlich, endlich wieder ein Trainer. Ob er mich wohl hart rannehmen wird? Der Gedanke an 15 Runden im schnellen Lauf um die Reitbahn zum Aufwärmen und 30 Minuten Stretching am Pferd beigeistert mich spontan…

“Trainer, also ich wie gesagt, ich möchte reiten lernen. Bisher habe ich noch nie auf einem Pferd gesessen, aber schon mal drüber gelesen. Wissen Sie, eigentlich habe ich immer Fußball gespielt, doch jetzt ist mir was dazwischengekommen”

“Jungchen, kein Problem. Hier haben schon viele das Reiten gelernt. Hast Du noch andere Klamotten dabei?” erwidert mein Trainer und sieht mit mitleidigem Blick auf meine Trainingshosen.

“Besser, Du ziehst Dir erstmal ein paar Jeans an”

So komme ich doch noch in Genuß der WC´s. Sehr ordentlich und gepflegt übrigens. Packe meine Ausgehtrainingshose wieder ein und schlüpfe in meine Jeans. Wenigstens meine guten Strassenturnschuhe behalte ich aber an, nicht das ich noch irgendwie wegrutsche. Bei meiner Rückkehr in das Reiterstübchen bemerke ich zunächst, daß die beiden wunderhübschen Mädchen nun bei den Kartenspielern am Tisch sitzen und anscheinend massiv ausgefragt werden. Ich kann Sätze wie “Wie findest Du Sex zu Dritt auf einer Skala von 1 bis 10” und “Würdest Du uns morgen auch Frühstück machen?” fragmentweise verstehen, die etwas verlegen aber unzweifelhaft begeistert dreinblickenden Augen der Mädchen beobachten und meinen Entschluß, mit diesen Göttern des Reitsports gemeinsame Sache zu machen, bekräftigen, bevor mein Weg mich zu der wiederum zur Saufnase mutierten Gestalt des Trainers führt. Dieser nimmt mich am Arm und bringt mich an einen etwas abseits gelegenen Tisch. Aha, jetzt kommt die persönliche Motivation. Guter Mann.

“Jungchen, laß uns doch gleich mal das Finanzielle regeln” zerstört er meine naive Annahme, daß es hier irgendwie anders zugehen würde als bei jedem x-beliebigen Anlageberater. So lasse ich dann das bereits am Telefon vereinbarte Honorar für eine dreiviertelstunde “Abteilungsreiten: Anfänger” in seine gierig ausgestreckten Hände wandern – täusche ich mich oder wird sein Blick gleich wieder glasig? Jedenfalls lehnt er sich wie erschöpft zurück und ruft einen Mädchennamen in Richtung der offenen Tür am hinteren Ende des Raumes. Innerhalb von kaum 5 Minuten steht dann auch ein Mädchen bei uns, Annette wie er sie mir vorstellt.

“Annettchen, das Jungchen ist neu. Reitet gleich die C-Abteilung mit. Zeig ihm alles. Welches Pferd ist den heute abend noch frei ?”

Annettchen erwiedert, nur die wilde Shila und der alte Candyman seien noch nicht belegt. Der Trainer schaut mich kurz an, schüttelt unmerklich den Kopf und weißt mir den alten Candyman zu. Dir werd ich´s zeigen. Der alte Candyman? Ich bin schon mit ganz anderen Gegnern fertig geworden! Doch beim Gedanken an meinen letzten Gegner und mein ballonartig angeschwollenes Knie beschließe ich, erst beim nächsten Mal auf die wilde Shila zu bestehen. Annettchen zupft mich am Ärmel.

“Na dann los. In 20 Minuten beginnt die Stunde. Ich zeig Ihnen kurz das Pferd”

Die nun folgende Viertelstunde wird wohl ewig unvergessen bleiben: sie begann mit einer kurzen Einweisung in die Pferdeanatomie (“besser nicht hinter dem Pferd stehen bleiben”), steigerte sich über die Erläuterung und Anwendung verschiedenster Putzgeräte bis zu einem Crescendo von verwirrenden Gegenständen wie “Trense”, “Gamaschen” und “Bauchgurt”. Mit Hilfe der etwas angenervt erscheinenden Annette gelang es mir jedoch, das Pferd wenige Minuten vor Beginn der Reitstunde fertig zu haben. Wir führen das Pferd in die Reithalle hinein, wo Annette mich dann alleine läßt. Wie ich mich noch gut erinnern kann wird der Reitsport wohl vom Rücken der Pferde aus betrieben, was mich nun vor das nächste schier unlösbare Problem stellt: wie verdammt noch mal kommt man den auf so ein großer Tier hinauf? Eine spontane Idee, nämlich das Pferd per Bocksprung von hinten er erklimmen, verwerfe ich wieder im Gedanken an die augenscheinliche Lächerlichkeit. Es muß doch auch anders gehen !? Endlich betritt der Trainer den Platz, ich werde augenblicklich ruhig wie vor einem entscheidenden Freistoß. Grinsend tritt Uwe auf mich zu, zieht auf beiden Seiten komische Metalringe an Lederriemen vom Sattel herunter und informiert mich

“So, nun das linke Bein von vorne in den Steigbügel, in die Mähne greifen und rauf mit Dir, Jungchen”

Steigbügel! Schlagartig werden mir die elementaren Zusammenhänge des Reitens klar: hier gibt es für alles eine Hilfe. Nichts wird dem Zufall überlassen. Mein Sport. Überlegen ziehe ich mich an der Mähne hoch und plumpse alsbald in den Sattel. Das Pferd rührt sich nicht, muß wohl unter Drogen stehen.

“Äh, Trainer, wie geht’s denn jetzt weiter” frage ich leicht panisch, als Uwe mir den Rücken zudreht und in Richtung einer Gruppe von Hausfrauen geht. Über die Schulter ruft er mir zu:

“Nimm die Zügel auf, tritt die Hacken rein und rechte Hand”

Niemals zuvor habe ich mich in so tiefer Verwirrung befunden. Zügel? Bestimmt die Haltegürte über dem Pferdehals. Ok. Haken reintreten? Wo rein denn bitte! Ach so, in die Steigbügel, klar. Ich habe zwar etwas damit zu kämpfen aber denn gelingt es mir, die Bügel über die Hacken zu streifen. Nun, noch die rechte Hand. Beim Gedanken an alte Cowboyfilme kommt mir die rettende Lösung. Ich beginne, mit dem rechten Arm große Kreise mit einem imaginären Lasso zu machen, was mein Pferd zu meiner nicht geringen Überraschung zu einigen Bocksprüngen veranlaßt. Mensch, bin ich froh die Steigbügel über die Hacken gezogen zu haben sonst hätte ich mich nicht einmal die drei Sekunden im Sattel halten können. Mit einem lauten “Jipiehhjeijyeah” und einem eleganten Salto purzele ich ziemlich genau vor die Füße des Trainers. Geschmeidig rolle ich mich ab, komme auf die Füße und balle die Hand zur berühmten “Becker-Faust” zusammen. Ja, sowas ward hier bestimmt noch nicht gesehen. Gleich über drei Sekunden im ersten Versuch. Die bestürzten Gesichter der anderen Anwesenden geben mir recht. Hinter der Fensterfront des Reiterstübchens bemerke ich viele Menschen, bin allerdings etwas über die Heiterkeit der Kartenspieler irritiert.

“Jungchen, sag mal, was war denn das?” fragt mich Uwe. Ich will gerade zu einer detailierten Schilderung meiner gezeigten Leistung ansetzen als mich eine der Hausfrauen erreicht.

“Sind Sie verletzt, sind sie verletzt?” schreit sie während sie mich zu Boden reißt.

Der Trainer kniet sich zu mir herunter und erklärt mir mit sanften Worten, daß die Diziplin Rodeo erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Ausbildung dran käme und außerdem auch eine andere Preiskategorie darstellen würde, da diese Fertigkeiten im Einzelunterricht vermittelt würden. Nebenbei bemerkt sei er eine absolute Kapazität auf diesem Gebiet, nur solle ich doch zunächst einmal wie allen anderen mit den Grundlektionen beginnen. Er bittet mich, wieder aufzusteigen aber zunächst nichts weiter zu tun und mich einen Moment zu gedulden, während er dringend mit der Ver­sicherungsgesellschaft telefonieren müßte.

Anschließend widmet er mir, wohl etwas verschämt über die Verkennung meiner Fähigkeiten mehr Aufmerksamkeit. Er zeigt mir die richtige Anbringung der Steigbügel, erläutert mir die korrekte Zügelhaltung und gibt mir Informationen zum Thema “die Hacken reinhauen” was ich auch wie beschrieben tue und das Pferd in einen wiegenden Schritt versetzte.

“Trainer, Trainer, ich kann´s. Sehn Sie mal wie gut das schon geht. Soll ich mal zur Mitte flanken?”

“Jungchen, halt den Mund und tue was ich Dir sage”

Den Ton kenne ich. Wenn unser alter Trainer so mit mir sprach war höchste Vorsicht geboten; leicht konnte es passieren das bei weiteren Ausrutschern die Säuberung sämtlicher Toilettenräume an einem Hängen blieb. Ich war daran normalerweise sehr interessiert was mich zu spontan erdachten Spotreimen veranlaßte. So auch hier

“Trainer, Trainer sollst nicht wandern von der Einen zu der Anderen. Sollst nicht die Frauen schlauchen sondern lieber zuhause saufen. Sollst nicht Post an Martha schicken, sonst kannste Du Deine Frau nie meh……”

“TRAB!” schallte es durch die Halle.

Die Hölle. Das ewige Fegefeuer. Die Foltern des Mittelalters. Eine Nacht mit Rosi. Nichts von alledem ist mit den Quallen vergleichbar, die ich durchmachen muß. Während ich noch überlege, ob wenigstens die Höhe meines Hinterteils von 35 Zentimetern am höchsten Punkt vor dem Wiedereintritt in den Sattel rekordverdächtig sein könnte verliere ich einen Steigbügel und bekomme langsam Schlagseite. Kurz bevor ich wiederum zum freien Fall komme erlöst mich ein Kommando des Trainers. Mein Held.

“Und Scheeeeeeeerittt”

Der blöde Gaul verfällt wiederum in seinen wiegenden Schritt. Ich kann mich sammeln, mich von den Kindern, die ich nie hatte kurz verabschieden und mit hoher Stimme dankbar hervorstammeln:

“Oh Du Trainer bist mein Gott, ich werde keine anderen Trainer neben Dir haben, niemals begehren Dein Weib oder eines, auf das Du Dein Auge geworfen hast und auf ewig dem schnöden Mammon zu Deinen Gunsten entsagen”

Innerlich beschließe ich allerdings, diesen Sport sofort aufzugeben und mich weniger aufreibenden Möglichkeiten des Zeitvertreibes zu widmen, z.B. an Diavorträgen teilzunehmen. Doch noch scheine ich nicht erlöst zu sein.

“Jungchen, wie steht´s, wollen wir nochmal traben?”

“Ähh, nei…”

“Und TRAB”

Die Hölle. Das ewige Fegefeuer. Die Foltern des Mittelalters. Eine Nacht mit Rosi. Unglaubliche Qualen muß ich erleiden bis der Tip des Trainers meine Ohren erreicht. In die Steigbügel stellen? Wie stellt der sich das denn vor? Vorsichtig drücke ich die Beine durch. Oh Du helle Freude, welch Erleichterung.

“Und jetzt wollen einmal leichttraben. Einen Schritt des Pferdes in den Bügeln stehen, einen Hinsetzen.”

Ich brauche kaum 5 Minuten um das Prinzip zu verstehen. Zwar dürfte eine Pizza Margarita neben meinem lädierten Hintern blaß aussehen, doch ich packe es. Tränen der Freunde laufen über meine Wangen. Im Reiterstübchen sehe Menschenknäuel sich am Boden windend, von Lachkrämpfen geschüttelt. Egal, nur weiter.

“Jungchen, jetzt pariere mal selber zum Schritt durch. Dazu ziehst Du VORSICHTIG an den Zügeln”

“Trainer, wie vorsichtig denn?”

“Nun, in etwa so als ob Du die Hose De…”

Ich komme ihm zuvor indem ich leicht an Zügeln ziehe und -oh Wunder- das Pferd verfällt wieder in seinen so lieblichen Schritt-Gang. Doch bereits nach wenigen Runden verlangt es mich nach mehr.

“Trainer, darf ich wieder in diesen Trab-Gang?”

“Neee, jetzt wollen wir mal was wirklich aufregendes ausprobieren. Den Galopp”

“Muß ich noch irgendwas wissen davor?” frage ich und füge in Gedanken hinzu “oder tun? Z.B. mich von meinen Eiern verabschieden?”

“Nein, nein, nur gut festhalten. Greif am besten in die Mähne” Ok, gemacht.

“Und GAaaaaLOPP”

Candyman verfällt in ein schnelles, aber seltsam rhythmisches Tempo. Nicht unangenehm. Zumindest gelingt es mir ohne Schwierigkeiten, fest im Sattel sitzen zu bleiben da ich mich fest in die Mähne kralle. Allerdings glaube ich nicht, daß es richtig ist wenn meine Beine in einem Gesamtradius von 180 Grad vom Kopf des Pferdes bis zurück zum Hinterbein hin- und hergeschaukelt werden. Aber der Trainer sagt nichts dazu und ich könnte eh nichts daran ändern. Nach wenigen Sekunden ist mein Ausflug in die Galopp-Gang-Welt auch schon wieder beendet. Der Trainer ruft das Kommando zum Wiege-Schritt, das Pferd gehorcht und meine Reitstunde ist beendet.

Von den Ereignissen des nächsten Tag berichten ich hier nichts, da es nichts zu berichten gibt, wenn man davon absieht das ich nicht einen Muskel bewegen, somit das Bett nicht verlassen und entsprechend auch nicht in das Büro gehen kann. Gegen 16:00 ruft der Trainer an, ob ich nicht die einmalige Gelegenheit zu einer weiteren Reitstunde nutzen möchte, er könnte noch ein Stündchen Zeit zwischendurch einrichten. Begeistert stimme ich zu. Der Beste will ich werden.


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