Rowdys der Reitbahn

22. November 1990 | Category: Freier Fall

Nennt es wie ihr wollt, ich nenn es Rock’n’Roll. Anders kann man meine Erfahrungen mit der Straßenverkehrsordnung des Reitens, der sogenannten “Hallenbenutzungsregelung” (Fassung vom 18.1.1972), geändert durch die Verordnungen III.7653.74 und III.4254.75 sowie ergänzt durch die Durchführungsbestimmung No. 87 vom 13.11.1973 nicht bezeichnen; so regelt z.B. der Abschnitt römisch Drei das Einreiten in die Bahn:

III. Betreten der Bahn
  1. Möchte ein Reiter die Reitbahn betreten muß er sich zunächst darüber klar werden, ob er dies a.1) zu Pferde oder a.2) zu Fuß tun will; alle unter a.2) zu bezeichnenden Fälle siehe XII. dieser Hallenbenutzungsregelung.
  2. Vor dem  Betreten der Reitbahn zu Pferde hat der Reiter zunächst die aktuelle Uhrzeit zu überprüfen. Die Benutzung der Reithalle außerhalb der im Anhang aufgeführten Benutzungszeiten ist nicht gestattet.
  3. Treffen die o.g. Bedingungen zu kann der Reiter sich mit seinem Pferde, daß an der rechten Hand geführt werden soll, zum Einritt der Reitbahn begeben. Hier hat er zu verweilen, sich davon zu überzeigen, daß durch seinen bevorstehenden Eintritt in die Bahn kein anderer Reiter -gleich ob zu Pferde oder zu Fuß, siehe III.A. bzw XII.- behindert werden kann, sich mit einem schnellen Schulterblick (linke Schulter!) davon zu überzeugen, daß kein evtl. dieser Hallenbenutzungsregelung Unkundiger zum Überholen ansetzt und dann mit einem deutlich vernehmlichen “Hei Ho” das bevorstehende Eintreten in die Bahn anzukündigen.
  4. Wurde von den anderen Reitern diese Aufforderung durch ein deutliches “Komm doch rein” oder “Nett Dich zu sehen” bestätigt, kann die Bahn betreten werden, wobei die Verweildauer auf dem Hufschlag (Definition siehe VII.C) möglich kurz bemessen sein soll und keinesfalls die Zeit, die für ein durchschnittliches Überqueren benötigt wird, um mehr als 30% Überschreiten soll.
  5. Mit dem Erreichen der Hallenmitte wurde die Bahn betreten.

Bereits beim Einstellen meines Pferdes wurde mir dieses telefonbuchstarke Regelwerk übergeben. Zwar hatte der für mein Planquadrat zuständige Boxenwart mich mit den jovialen Worten “Nimm es damit bloß nicht so genau” auf einen eher laschen Umgang hingewiesen, doch wurde ich erheblich unsicherer, nachdem ich ein kurzes Gespräch mit den hinter der Reithalle, in großen Fässern steckenden Personen geführt hatte.

“Hallo Peter!”

“Moin Vincent, nett Dich zu sehen. Na, hast Du Dich hier schon eingelebt?”

“Ach, klar, ist doch echt nett hier. Alles nette Leute, sehr hilfsbereit, keine Fouls bisher”

Wir ignorierten gemeinsam und mit einigem Erfolg die Tatsache, daß Peter sich bis zum Hals in einem Faß voller Pferdemist befand, dessen Gestank ich auch aus einem Meter Entfernung kaum ertragen konnte. Am Faß vorne prangte ein Schild “Schuldig des versuchten Handwechsels ohne vorherige Ankündigung” . Etwas betroffen und nur äußerlich lässig schlenderte ich zur nächsten Tonne:

“Hallo Frau Westfal, so früh schon auf den Beinen heute?”

“Ah, der junge Herr Berger. Schönes Wetter heute, nicht wahr?”

Auch die arme Frau Westfal, immerhin schon deutlich aus den Wechseljahren heraus befand sich in einer ähnlich mißlichen Situation wie Peter, auf ihrem Schild stand zu lesen “Schuldig des Wechselns durch die halbe Bahn mit Abweichung zu C von mehr als 1,75m in Tateinheit mit versäumtem Umsitzen”. Frau Westfal lächselte mich versonnen an. Nach etwas unsicherem “Einen schönen Tag auch noch” bummelte ich zu der dritten Tonne, in der sich ein junges Mädchen von vielleicht 13-14 Jahren befand. Interessanterweise war diese Tonne aber nicht voller Mist.

“Veronica, Veronica, der Lenz ist da” entfleuchte es mir, bevor ich mich auf das jugendliche Alter des kleinen Luders besinnen konnte. Dessenungeachtet starrte Veronica mich mit großen Rehaugen an, sagte aber kein Wort. Um mich auf die Situation besser einstellen zu können studierte ich das an ihrer Tonne angebrachte Schild: “Angeklagt der vorsätzlichen Mißachtung der Regelungen IV.A bis IV.D der Hallenbenutzungsordnung (Fassung vom etc. etc.). Ihr Votum ist gefragt!”. Nun wußte ich zufällig noch ziemlich genau, was Abschnitt römisch Vier der unsäglichen Hallenbenutzungsregelung vorschrieb, da ich einige Nächte mit feuchten Träumen nach der Lektüre verbracht hatte: hierin war geregelt,
A) welche Körbchengröße für weibliche Hallenbenutzer mindestens vorgeschrieben ist, B) aufgrund welcher Bedingungen es Frauen im allgemeinen sowie C) minderjährigen Frühreifen im besonderen überhaupt nur erlaubt war, sich verbal zu artikulieren und D) innerhalb welcher Grenzen sich die Haarlänge von Reitern insgesamt bewegen darf bzw. welche Maßnahmen gegen zu lange Haare zu ergreifen seien (Haarnetze bei Frauen und Brandrodung bei Männern). Voller Interesse sah ich Veronica an und versuchte mich gleichzeitig an den Abschnitt XXII. zu erinnern, der von Saktionen und Bestrafungsmaßnahmen bei Verstößen handelte. Schließlich half mir der neben der Tonne befindliche Haufen stinkenden Mists auf die Sprünge. Mitfühlend dreinschauen und der mießen Mißachterin von sinnvollen Regeln mehrere Forken voller Mist über den Kopf schaufeln war eins für mich. Derart meinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgekommen zog ich leise vor mich hinpfeifend, im Bewußtsein den absolut richtigen Reitstall ausgewählt zu haben, in Richtung meines Pferdes, um mich nunmehr selbst -unter peinlich genauer Beachtung der 713 Regeln der Hallenbenutzungsregelung- für eine Stunde im Reiten zu üben.

Nach diversen Schwierigkeiten, mein Pferd in einen reitbereiten Zustand zu versetzen ohne gegen eine der diversen Bestimmungen der “Boxen- und Stallgassenordnung” zu verstoßen war es dann endlich soweit; ich konnte beginnen. Unter Aufbietung sämtlicher mentaler Kräfte schaffte ich es, die Reitbahn zu betreten und mein Pferd zu erklimmen, ohne vom allgegenwärtigen Hallenrichter mit einer Verwarnung belegt zu werden. Ich begann mit einer Runde Schritt auf dem zweiten Hufschlag am langen Zügel, was mir das Stirnrunzeln von Herrn Hintz, dem eingeteilten Hallenrichter (und nebenberuflichem Beamten), eintrug wie ich durch das schußsichere Glas des Richterturmes erkennen konnte. Kurz nachgegurtet und frisch angetrabt, dabei locker die Zügel aufnehmend und forsches Tempo vorlegend begab ich mich ins Gefecht. Wechselte durch die Bahn. Ritt auf dem Zirkel. Wechselte aus dem Zirkel. Mutig geworden versuchte ich mich mit einer Volte. Prompt ertönte das automatische Warnsignal der elektronischen Überwachungsanlage, die Abweichungen von den vorgeschriebenen Hufschlagfiguren ständig mißt, auswertet und bei Abweichungen -wie jetzt bei mir- Signal gibt. Eine tolle Technik. Wieselflink sah ich mich um, bemerkte aus den Augenwinkeln, daß Herr Hintz jetzt direkt an das Glas herangetreten war und sich anschickte, einen Notizblock zu öffnen. Allein, dies konnte mein Selbstbewußtsein in keinster Weise trüben. Übermütig versuchte eine komplizierte Figur, “Vorhandswendung”. Kein Problem. Beim nächsten Anlauf kam mein Pferd auf der Hinterhand zu weit vom Hufschlag ab, prompt ertönte wieder das Signal. Starr vor Schreck bemerkte ich das wölfische Grinsen mit dem Herr Hintz nunmehr das Notizbuch vollends öffnete und began, sich eifrig Notizen anzufertigen. Ich beschloß, mich nunmehr noch korrekter zu verhalten, aber auch etwas weniger zu riskieren. Nach einigen Dutzend Runden im Trab auf der linken Hand (man hat nämlich sozusagen Vorfahrt auf der linken Hand) ohne weitere Vorkommnisse beschloß ich, daß es nunmehr Zeit wäre, zu Galopplektionen überzugehen. Um auch ja alles richtig zu machen beim angaloppieren parierte ich zunächst durch zum Schritt. Ein mörderisches Signal ertönte, eine Warnlampe begann zu blinken und ich hörte eine dunkle, leicht verfremdete Stimme aus dem Lautsprecher:

“Nr. 11, Nr. 11, sie haben den vorgeschriebenen Mindestabstand für die Durchführung einer ganzen Parade auf dem Haupthufschlag zu ihrem unmittelbaren Nachfolger in Höhe von 3,25 Pferdelängen (mittleres Maß) nicht eingehalten. Erste Verwarnung, ich wiederhole: erste Verwarnung!”

Oh Schreck, ich hatte mich nicht versichert, ob jemand hinter mir reitet. Nachdem die Warnlampe erloschen und das Signal verstummt waren konnte ich wieder klar denken. Ich hob um Verzeihung heischend die Hand in Richtung des Richterturmes, sah wie Herr Hintz das Mikrofon an die Lippen zu heben began, besann mich in Sekundenbruchteilen auf IX.F “Im Schritt nicht auf dem Haupthufschlag reiten” und riß mein Pferd vom Hufschlag herunter. Der Schweiß lief mir inzwischen in Strömen herunter, die vorgeschriebene Krawatte begann zu verrutschen. Ein vorbeireitender junger Mann trat mich unter perfekter Ausnutzung des toten Winkels vor das Schienenbein. Ich parierte durch zum Stand un mich zu besinnen. Eine Amazone eher fortgeschrittenen Alters, im perfekten Kreuzgalopp auf- und abhüpfend blaffte mich an:

“Stehen Sie hier nicht rum, ich werde mich über Sie beschweren!”

Also wieder Trab. Wo war ich denn hier? Doch nicht mit mir! Es sollte mir doch gelingen, so ein paar läppische Regeln einzuhalten. Also dann – Schulterherein. Herrr Hintz sah von seinem Notizbuch auf. Viereck verkleinern – perfekt gelungen, die Augen von Herrn Hintz wurden größer. Angaloppieren, Mittelgalopp. Ja. Fassungslossigkeit bei Herrn Hintz. Jaaaa. Auf dem Zirkel, an der offenen Seite Galoppschritte verlängern. Sein Mund stand weit offen, ich meinte, Speichel auf sein Revers tropfen zu sehen. Jetzt geb ich Dir den Rest, nahm ich mir vor. Kriechen und winseln sollst Du. Ich bereitete mich vor auf den großen Moment: aus dem Zirkel wechseln mit fliegendem Galoppwechsel. Setzte an, linker Schenkel zurück, halbe Parade, und….

Die Zeit zwischen dem Zusammenprall mit der sich auf dem anderen Zirkel befindlichen alten Hexe und dem ertönen des Warnsignales kann nicht länger als zwei, höchstens drei Sekunden betragen haben, doch sie machte aus mir ein Wrack. Ich hörte, wie die automatischen Türen in ihre Schlösser rasselten, sich zwei starke Scheinwerfer auf mich richteten und konnte die tiefe innere Befriedung, mit der Herr Hintz seine Ansage durchgab, beinahe spüren:

“Nr. 11, Nr. 11, sie haben wiederholt gegen die Bestimmungen, die zur Nutzung dieser Einrichtung Bedingung sind, in schamloser, infamer Weise verstoßen. Bitte verlaßen Sie unmittelbar die Reitbahn. Der Termin zur mündlichen Verhandlung wird auf heute Nachmittag, 14:00 festgesetzt. Finden Sie sich zu dieser Zeit hinter der Reithalle ein.”

Resigniert verließ ich die Bahn, versorgte mein Pferd und atmete noch einmal die köstliche, frische Luft.


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