Herrenabend

22. November 1990 | Category: Freier Fall

Eben hatte ich einen Traum. Einen Traum von einem anderen Leben. In diesem anderen Leben ging es mir garnicht gut, oh nein. Ich war zwar gesund, groß, gutausehend, hatte finanziell keinerlei Sorgen und lebte im großen und ganzen zufrieden mit der Welt und ihren Menschen, doch hatte ich ein ernsthaftes Problem: Pech im Spiel. Egal welche Art von Spiel ich begann, die Rolle des mit enttäuschtem Gesichtsausdruck  dasitzenden Narren war mir sicher. Wir saßen da also allesamt beim Pokern, wie üblich in unserer illustren Männerrunde, derbe Witze über alle Nichtanwesenden und zottige Sprüche über die Damenwelt vom Stapel lassend, und ich war der erste der mit langem Gesicht keine Jetons mehr vor sich hatte und anfing, die Mitspieler von seinen menschlichen Qualitäten (sprich: Kreditwürdigkeit) zu überzeugen. Das spielte sich folgendermaßen ab:

Peter:   “Hey Jungs, seht mal, Vincent hat schon garkeine Kohle mehr!”

Jens:    “Waaas? Und dabei hat er doch erst %$& (ein ziemlich hoher Betrag wird genannt) verloren.”

Auch Jan mischte sich ein:

Jan:      “Frechheit, hier mit so wenig Geld anzukommen. Der will uns bestimmt Betrügen!”

Noch während ich versuchte, meine Unschuld zu beteuern und dies durch Argumente wie “Ihr seid doch alle meine Freunde”, “Friede in der Welt” oder “Alle Menschen werden Brüder” bekräftigte, setzte allgemeines Buhen ein und erste Zigarettenkippen wurden in meine Richtung geschleudert, woraufhin ich unter winselndem “Tut mir leid, tut mir leid”-Rufen zu Boden ging und schützend die Arme vor das Gesicht warf, da gerade eine besonders fiese Mischung aus Salzstangen und Zigarettenasche auf mich geschleudert wurde, wobei mir dummerweise das Pik-As und der Pik-König aus dem Ärmel rutschten. In der sich nun anschließenden allgemeinen Empörung und Rangelei, in deren Verlauf ich zwangsweise um wertlose Kleinigkeiten wie Autoschlüssel, Armbanduhr und Brieftasche gebracht wurde, bemerkte ich gerade noch, wie Peter sich unauffällig der beiden verlorenen Spielkarten bemächtigte. Kurz traffen sich unsere Blicke, ich zwinkerte ihm mitfühlend zu, woraufhin er mir einen Tritt gegen den Hals versetzte, seinesfalls mitfühlend zwinkerte und zischte: “Ein Wort und Du bist Tot!”. Jeder kann sich leicht die anschließenden 2-stündigen Verhandlungen vorstellen, in deren Verlauf ich (an einen Stuhl gefesselt und mit Strümpfen von Mike geknebelt) einen Kreditvertrag unterschreiben mußte, der harmlose Klauseln wie “Im Falle der Nichtrückzahlung verkaufen wir sein Pferd” oder “als Zinsen unabhängig von Kredithöhe und Laufzeit wird ein Alfa-Spider festgesetzt” enthielt und mit Blut (ausschließlich meinem) unterzeichnet wurde. Daran anschließend konnten wir -allesamt guter Stimmung- unsere kleine Spielrunde fortsetzten. Etwas Verstimmung flackerte kurz auf als ich die Frechheit besaß, schüchtern darauf hinzuweisen, daß ich den im Kreditvertrag festgelegten Betrag doch noch garnicht erhalten hätte. Dieses Problem wurde jedoch schnell gelöst, indem Jan einige Kartoffelchips vor mir ausschüttete, erklärte, dies würde nunmehr dem Gegenwert der ausgehandelten Kreditsumme entsprechen und damit sei wohl alles klar. Schnell bedienten sich noch mal alle von meinem Chips, woraufhin mir unter “Danke für die Leckereien” freundschaflich auf die Schulter geklopft wurde. So nahm dann das Spiel wiederum seinen Lauf und -kaum zu glauben- ich gewann! Leider spiegelte sich dieser eigentlich positive Verlauf in meiner monetären Situation kaum wieder da meine Mitspieler, plötzlich augenfällig um die Sauberkeit des Spieltisches bemüht, regelmäßig die “Krümel” der Kartoffelchips (meines Geldes…) vom Tisch fegten. Trotzdem, ich gewann weiterhin. Mißfällige Blicke wurden unter meinen Freunden gewechselt und es schien eine gewisse Ratlosigkeit zu herrschen. Doch plötzlich bemerkte ich einen befreiten Gesichtsausdruck bei Peter; er stürmte in die Küche, kam mit einem Kasten Kartoffelchips zurück, verteilte diese großzügig Tütenweise an alle außer mich (“Du hast doch schon sooo viele, Karlchen”) setzte sein geschäftsmäßiges Lächeln auf und erklärte allen Anwesenden einige grundlegende Dinge des allgemeinen Wirtschaftslebens; die meistverwendeten Vokabeln waren “Inflation” und “Chipsmenge M3”. Nunja, solchermaßen informiert entschloßen sich alle Anwesenden spontan zu einer Währungsreform via Zwangsumtauschaktion Chips gegen Jetons, “um der umsichgreifenden, abendzerstörenden Geldentwertung” wirksam zu begegnen. In den Wirren der nun folgenden Tauscherei muß ich wohl etwas den Überblick verloren haben, auf alle Fälle kam ich zur 2:1-Aktion wohl zu spät, denn am Ende hatte ich weder Chips noch Jetons übrigbehalten. Ich tröstete mich damit, daß immerhin wieder eine freundliche ausgelassene Stimmung am Tisch herrschte, auch wenn ich selber davon nicht profitieren konnte, da ich als nicht-liquide vom Spiel verbannt und mit dem Hund des Gastgebers auf einen Spaziergang geschickt worden war. Vom Verlauf dieses Spaziergangs sei hier nursoviel berichtet, daß eine herumziehende Horde von Hütchenspielern und eine Anzahl von Schuldscheinen eine nicht unwesentliche Rolle darin spielten. Kaum überraschend, daß mir auf mein bittendes Klingeln nicht geöffnet wurde, mein Auto zwischenzeitlich irgendwie umgeparkt worden war (nicht, daß ich noch einen Schlüssel gehabt hätte) und das Namensschild an der Tür ausgetauscht wurde. Um mich etwas zu entspannen gab ich dem Hund einen Tritt, der mich daraufhin biß und ungefähr 100m weit mitschleifte, bevor ich die Leine lolassen konnte.  Vor der Tür meiner guten Freunde setzt ich mich -nun doch etwas niedergeschlagen- auf den Rasen, dachte kurz an tröstende Phrasen wie “Pech im Spiel, Glück in der Liebe”, ließ den gerade beginnenden Regen mit einem nahezu göttlich anmutenden Gleichmut über mich ergehen und muß ob dieser gemütlichen Umgebung wohl kurz eingenickt sein.

So, nun bin ich aufgewacht, der Alptraum ist zu Ende. Etwas überrascht muß ich feststellen, daß ich mich gegenüber der Wohnung meiner besten Freunde auf dem Rasen bei leichtem Nieselregen befinde, anscheinend keinerlei Wertgegenstände bei mir trage und eine Bißwunde habe; ein schrecklicher Verdacht steigt in mir auf: können Hundebisse im Traum auf einer psychogalaktischen Ebene Auswirkungen auf das tatsächliche körperliche Befinden haben? Vielleicht so etwas wie Phantomschmerzen? Man hat ja schon so maches gehört und wen soll es da noch wundern… Nachdem ich dies erwogen und verworfen hatte durchdachte ich kurz den vermeintlich geträumten Abend und ein hähmisches Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus – anscheinend hatte Peter nicht bemerkt, daß die beiden Spielkarten aus meinem Ärmel eine andere Rückenfarbe besaßen als das überraschend von dem ewig mißtrauischem Jan neu mitgebrachte Karternspiel. Nun war der Abend gerettet – ich sah mich kurz um, entdeckte einen Fahrradständer, schleifte diesen an die voraussichtliche Aufschlagstelle direkt unter dem Wohnzimmerfenster meiner Freunde im zweiten Stock, stellte diesen so auf, daß der in Kürze gewaltsam durch das Fenster stürzende Körper von Peter direkt auf die nach oben gerichteten Zinken fallen würde und lehnte mich zurück – wie gut, wenn man sich auf seine Freunde verlassen kann.


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