Doktor, Doktor

22. November 1990 | Category: Freier Fall

Achtung, Gegenwind. Fast muß ich die Augen schliessen bei diesem Tempo. Erste Tränen, verursacht durch Zugluft, rinnen über meine Wangen und lassen mich wie Madonna am Morgen danach aussehen. Ein herliches Gefühl von Freiheit und Abenteuer, mit Al auf den Weiten des oberen Zirkels im Zuckeltrab die unbekannten Gegenden der interessanten Halllenlandschaft zu erkunden. Ich verlagere mein Gewicht nach links um einen Handwechsel vorzubereiten (zufällige Zuschauer halten erschrocken den Atem an, rufe wie “Achtung er fällt” und “Oh mein Gott, ein Unfall…” sind zu hören), fasse einen laufenden Meter äußeren Zügel nach -der ja gleich der innere werden soll- nicht ohne diesen auf der anderen Seite elegant durch die Finger laufen zu lassen und bereite mich auf das wohl unangenehmste Erlebnis eines jeden Handwechslers vor: das Umsitzen. Da ist es schon. Einmal sitzenbleiben. Achtung. Die Zähne zusammenbeissen, dem Schmerz mutig entgegensehen. Ahhhh, geschafft. Ich schaue nach unten um meinen Erfolg zu kontrollieren. Das äußere Pferdebein soll vorne sein wenn ich aufstehe. Moment. Hier stimmt doch was nicht. Al scheint sein äußeres Bein überhaupt nicht mehr aufzusetzen. Schlagartig begreife ich was passiert ist: mein armer Al hat ein Bein verloren! Erschreckt sehe ich über die Schulter zurück aber nichts ist zu sehen. Bleibt nur ein Schluß: Al ist LAHM.

In dem sich nun anschließenden Chaos zwischen Sauerkrautverbänden, Absorbine-Creme und Stoßgebeten findet eine einsame Stimme mein Ohr:

“Mensch Vincent, vielleicht solltest Du besser einen Tierarzt rufen!”

Ja, ja, gemach. Zwar bin ich der Meinung, selbst der beste Freund meines Pferdes zu sein (und ist nicht ein guter Arzt wie ein Freund, der dich zur Seite nimmt und dir sagt: “Leider mußt Du in vierzehn Tagen sterben” ?) aber was solls. Der erste Tierarzt möchte mir seinen Anrufbeantworter schicken, also auf zum nächsten. Eine Tierärztin.

“Guten Tag, wie war doch gleich ihr Name?”

“Berger, Vincent B e r g e r, also B wie Blamage, E wie Eklig, R wie Richtermord, G…”

“Herr Berger, einen Moment bitte” (ich höre eifriges Bearbeiten einer Computertastatur)

“Ähem, der Herr Berger, ach wie nett, das ist aber eine echte Freude, also Herr Berger sie sind wirklich mein Lieblingskunde…”

“Vergelt’s Gott, werte Dame, vielen Dank. Jetzt hätte ich gerne…”

“…allerdings sollten sie bei allernächster Gelegenheit daran denken, ihre drei offenen Rechnungen hier zu bezahlen, da ich sonst einen Mahnbescheid beantragen müßte!”

“…ihre Bankverbindung, damit ich noch heute zur Zahlung schreiten kann” gelingt mir ein Umschwung.

Also der nächste Tierarzt. Hier klappts besser. Dieser Arzt war noch nie bei uns im Stall, hat auch noch nichts von mir und meiner Zahlungsmoral gehört und ist sogar bereit, innerhalb der nächsten 2 Monate vorbeizuschauen. Mir gelingt es gerade noch unter Hinweis auf meine Angewohnheit, Tierarztdienste ausnahmslos in bar und ohne Rechnung zu vergüten, sein Kommen für “irgendwann heute” etwas näher zu spezifizieren bevor er -scheinbar erschöpft- auflegt. Nunmehr guter Dinge leiste ich meinem Al etwas Gesellschaft indem ich mich mit weißem Kittel und Sthetoskop ausgerüstet vor seine Box stelle und mit wiegendem Kopf und wissender Miene leise vor mich hinmurmele. Al scheints jedenfalls zu gefallen, interessiert schaut er mich fortwährend an.

Nur wenige Stunden später höre ich ein ohrenfällig älteres Auto auf den Hof getuckert kommen und seitdem in unserem Stall nur Snobs verkehren schließe ich blitzschnell und messerscharf das es sich dabei nur um den bestellten Tierarzt handeln kann. Ich bin kurz hin- und hergerissen zwischen der Möglichkeit, mir eine blonde Perücke aufzusetzen und die “Hallo-ich-bin-Krankenschwester-Marlene”- Nummer abzuziehen oder meinen weißen Kittel schnell abzustreifen und daraus ein islamisches Kopftuch herzustellen. Mit Blickrichtung auf Mekka empfange ich den etwas tatterig daherkommenden Tierarzt. Auf sein Bitten hin führe ich Al aus der Box und auf den Hof hinaus. Anscheinend haben Allah und ich so etwas wie eine gemeinsame Wellenlänge, zumindest tritt Al ganz fest auf und zeigt keinerlei Anzeichen von Lahmheit. Gerade als ich aufatme und den Tierarzt mit den Worten “Vergelt’s Gott guter Mann. Ich tue es nicht” entlassen will sehe ich ihn bedenklich mit dem Kopf wackeln und ein guturales “hummmm hrrrmmm” ausstoßen.

“Oh oh, da müssen sie sich aber auf eine lange Krankheit einrichten. Das sieht aber man bannich schlecht aus” bestätigt er meine schlimmsten Befürchtungen.

Mit zu Schlitzen verengten Augen blickt er kurz auf die Beine von meinem Al, schwenkt dann über zu mir und verweilt schließlich an der Ausbuchtung unter meinem Jackett, etwa in Höhe des Herzens. Meiner Brieftasche. Den alten Profi erkennt man eben gleich. Er teilt mir etwas über eine wohl sechsmonatige Behandlungsdauer mit in deren Verlauf er ca. zwei bis drei Mal pro Woche zu umfangreichen Besuchen kommen müßte, deren wesentliche Bestandteile die regelmäßigen Thrombose-Spritzen seien. Al scheint über seine Krankheit eine eigene Meinung zu haben. Der Tierarzt schaut auf seinen Block und murmelt:

“Arterielle Verspannungen im hinteren Halt-Sattel-Muskel.”

Al trabt wie Donnerhall mehrmals über den Hof. Der Tierarzt schaut weiter auf seinen Block.

Al probiert es mit 15 Meter laufen nur auf der Hinterhand, vorne aufgerichtet.Ich meine einen flehenden Blick von ihm aufzufangen.

“Mittelschwere Ohrlappenentzündung mit Katargefahr” diagnostiziert er munter drauflos ohne den Blick zu heben. Al piaffiert auf der Stelle.

“Und schwere Darmtätigkeit. Ihr Pferd ist ja halbtot!” motiviert er meinen Al zu einem dreifachen Doppelachsel mit anschließendem Tulup, aus dem Stand gesprungen.

“Dieses Pferd darf sich mindestens vier Monate lang nicht bewegen, ich schlage eine entsprechende Befestigung in der Box vor.”

Al steht mit zitternden Flanken vor uns als der Doc endlich von seinem Notizblock aufschaut.

“Sehen Sie nur, nach nur wenigen Schritten ist er bereits total ermattet. Nein, nein, hier müßen wir ganz konsequent meine neue equipatische Behanldungsmethode anwenden. Sicher, nicht ganz billig, aber bereits in einem Jahr werden sie wieder damit beginnen können, Ihr Pferd im Schritt zu reiten.”

Al läßt den Kopf hängen und trottet in Richtung seiner Box davon.

“Herr Berger, dann wären da noch die vertraglichen Regelungen. Wenn Sie bitte hier eine kurze Unterschrift…?”

Ich beschließe, diesen Scharlatan jetzt seiner gerechten Strafe zuzuführen. Ich gehe scheinbar hinter Al in Richtung zum Stall, komme dabei dicht an dem alten Teufel vorbei, versichere mich mit einem geübten Blick ob der Schiedrichter gerade herschaut und verhakle mich scheinbar zufällig mit Ellenbogen und Ferse. Er geht mit einem Seufzen zu Boden. Um eine gelbe Karte zu vermeiden werfe ich mich ebenfalls der Länge nach hin. Ein Schwalbe macht noch keinen Sommer, aber für diese hätte mein Gegenspieler mit Sicherheit Rot gesehen denke ich, während ich auf mein schlimmes Knie falle und in einen alt-indianischen Sing-Sang verfalle.

“Iaaaaaaaaahhhhh ohhhhhhhhhh, arggggghhhhhh”

Der Tierarzt rappelt sich auf, wirft kurz einen Blick auf mich und beugt sich über seinen Notizblock.

“Eine Knorpelverhärtung im linken Ellenbogen, verdacht auf Tumor in der linken Gehirnhälfte und eine belegter Rachenraum. Ja, da werden sie für mindestens drei Monate nicht aufstehen können.”

Ich versuche vergeblich einen Salto mit abschließendem Flik-Flak.


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