Weiße Weihnachten

21. November 1990 | Category: Freier Fall

8. Dezember, 18:00

Es hat angefangen zu schneien. Der erste Schnee in diesem Jahr. Meine Frau und ich haben unsere Cocktails genommen und stundenlang am Fenster gesessen und zugesehen wie riesige, weiße Flocken vom Himmel herunter schweben. Es sah aus wie im Märchen. So romantisch – wir fühlten uns wie frisch verheiratet.

Ich liebe Schnee.

9. Dezember

Als wir wach wurden, hatte eine riesige, wunderschöne Decke aus weißem Schnee jeden Zentimeter der Landschaft zugedeckt. Was für ein phantastischer Anblick! Kann es einen schöneren Platz auf der Welt geben? Hierher nach Rade zu ziehen war die beste Idee, die ich je in meinem Leben hatte. Habe zum ersten Mal seit Jahren wieder Schnee geschaufelt und fühlte mich nun wieder wie ein kleiner Junge. Habe gleich die Einfahrt und noch den ganzen Bürgersteig freigeschaufelt. Am Nachmittag kam dann der Schneepflug vorbei und hat den Bürgersteig und die Einfahrt wieder zugeschoben, also holte ich die Schaufel nochmals raus.

Was für ein tolles Leben!

12. Dezember

Die Sonne hat unseren ganzen schönen Schnee geschmolzen. Was für eine Enttäuschung. Mein Nachbar Jörg sagt, daß ich mir keine Sorgen machen soll, wir werden definitiv eine weiße Weihnacht haben. Kein Schnee zu Weihnachten wäre schrecklich! Jörg sagt, daß wir bis zum Jahresende so viel Schnee haben werden, daß ich nie wieder Schnee sehen will. Ich glaube nicht, daß das möglich ist.

Jörg ist sehr nett – ich bin froh, daß er unser Nachbar ist.

14. Dezember

Schnee, wundervoller Schnee! 30 cm letzte Nacht. Die Temperatur ist auf -20 Grad gesunken. Die Kälte läßt alles glitzern. Der Wind nahm mir den Atem, aber ich habe mich beim Schaufeln aufgewärmt. Das ist das Leben! Der Schneepflug kam heute nachmittag zurück und hat wieder alles zugeschoben. Mir war nicht klar, daß ich soviel würde schaufeln müssen, aber so komme ich wenigstens wieder in Form.

Wünschte nur, ich würde dabei nicht so derart Pusten und Schnaufen.

15. Dezember

Schneevorhersage: 60 cm! Habe meinen Kombi verkauft und einen Jeep gekauft. Und  Winterreifen für das Auto meiner Frau und zwei Extra-Schaufeln. Habe den Kühlschrank aufgefüllt. Meine Frau will einen Holzofen, falls der Strom ausfällt.

Das ist lächerlich – schließlich sind wir hier nicht in Alaska.

16. Dezember

Eissturm heute Morgen. Bin in der Einfahrt auf den Arsch gefallen, als ich Salz streuen wollte. Tut höllisch weh. Meine Frau hat über eine Stunde gelacht.

Das finde ich ziemlich grausam.

17. Dezember

Immer noch weit unter Null. Die Straßen sind zu vereist, um irgendwohin zu kommen. Der Strom war 5 Stunden lang weg. Mußte mich in Decken wickeln, um nicht zu erfrieren. Kein Fernseher. Nichts zu tun als meine Frau anzustarren und zu versuchen, sie zu irritieren. Glaube, wir hätten einen Holzofen kaufen sollen, würde das aber nie zugeben.

Ich hasse es, wenn sie Recht hat.

Ich hasse es auch, in meinen eigenen Wohnzimmer zu erfrieren.

20. Dezember

Der Strom ist wieder da, aber noch mal 40 cm von dem verdammten Zeug letzte Nacht. Noch mehr schaufeln. Hat den ganzen Tag gedauert. Der beschissene Schneepflug kam zweimal vorbei. Habe versucht eines der Nachbarskinder zum Schaufeln zu überreden. Aber die sagen, sie hätten keine Zeit, weil sie Hockey spielen müßten. Ich glaube, daß die lügen. Wollte eine Schneefräse im Baumarkt kaufen. Die hatten keine mehr. Kriegen erst im März wieder welche rein. Ich glaube, daß die lügen. Jörg sagt, daß ich schaufeln muß oder die Stadt macht es und schickt mir die Rechnung.

Ich glaube, daß er lügt.

22. Dezember

Jörg hatte recht mit weißer Weihnacht, weil heute Nacht noch mal 30 cm von dem weißen Zeug gefallen ist und es ist so kalt, daß es bis August nicht schmelzen wird. Es hat 45 Minuten gedauert, bis ich fertig angezogen war zum Schaufeln und dann mußte ich pinkeln. Als ich mich schließlich ausgezogen, gepinkelt und wieder angezogen hatte, war ich zu müde zum Schaufeln. Habe versucht für den Rest des Winters Jörg anzuheuern, der eine Schneefräse an seinem Lastwagen hat, aber er sagt, daß er zu viel zu tun hat.

Ich glaube, daß der Wichser lügt.

23. Dezember

Nur 10 cm Schnee heute. Und es hat sich auf 0 Grad erwärmt. Meine Frau wollte, daß ich heute das Haus dekoriere. Ist die bekloppt? Ich habe keine Zeit – ich muß ja schließlich SCHAUFELN !!! Warum hat sie mir das nicht rechtzeitig schon vor einem Monat gesagt?

Sie sagt, sie hat, aber ich glaube, daß sie lügt.

24. Dezember

20 Zentimeter. Der Schnee ist vom Schneepflug so fest zusammengeschoben, daß ich die Schaufel abgebrochen habe. Dachte ich kriege einen Herzanfall. Falls ich jemals den Arsch kriege, der den Schneepflug fährt, ziehe ich ihn an seinen Eiern durch den Schnee. Ich weiß genau, daß er sich hinter der Ecke versteckt und wartet bis ich mit dem Schaufeln fertig bin. Und dann kommt er mit 150 km/h die Straße heruntergerast und wirft tonnenweise Schnee genau auf die Stelle, wo ich gerade war. Heute Nacht wollte meine Frau mit mir Weihnachtslieder singen und Geschenke auspacken, aber ich hatte keine Zeit. Mußte nach dem Schneepflug Ausschau halten.

25. Dezember

Frohe Weihnachten. 60 Zentimeter mehr von der Scheiße. Eingeschneit. Der Gedanke an Schneeschaufeln läßt mein Blut kochen. Damned, ich hasse Schnee! Dann kam der Schnee­pflug­fahrer vorbei und hat nach Pannenhilfe gefragt. Ich hab ihm meine Schaufel über den Kopf gezogen. Meine Frau sagt, daß ich schlechte Manieren habe. Ich glaube, daß sie eine Idiotin ist. Wenn ich mir noch einmal Derrick ansehen muß, werde ich sie umbringen.

26. Dezember

Immer noch eingeschneit. Warum um alles in der Welt sind wir hierher gezogen? Es war alles IHRE Idee. Sie geht mir echt auf die Nerven. Als sie von Quandt zu Schimanski umschaltet, kriege ich heftige Kopfschmerzen. Besser, ich gehe etwas Schnee schaufeln.

27. Dezember

Die Temperatur ist auf -30 Grad gefallen und die Wasserrohre in der Toilette sind eingefroren. Ich erleichtere mich in die Spüle, bevor mir einfällt, daß dieser Abfluß viel zu klein ist. Um wenigstens den gröbsten Geruch fernzuhalten, hole ich etwas Schnee herein, er wird schon nicht schmelzen, die Heizung ist ja auch wieder ausgefallen.

28. Dezember

Es hat sich auf frühlingshafte -5 Grad erwärmt. Wir sind aber immer noch eingeschneit. Kommissar Rex stöbert vergnügt durch den Frühling.

29. Dezember

Noch mal 30 Zentimeter. Jörg sagt, daß ich das Dach freischaufeln müßte, oder es würde einstürzen. Das ist das absolut dämlichste, was ich je gehört habe.

Für wie blöd hält der mich eigentlich?

30. Dezember

Das Dach ist eingestürzt. Nachdem nunmehr der Fernsehempfang nur noch deutlich einge­schränkt zur Verfügung steht ist meine Frau zu ihrer Mutter gefahren. Der Schneepflugfahrer kündigt an, mich auf 50.000 Schmerzens­geld zu verklagen. 25 Zentimeter vorhergesagt.

31. Dezember

Habe den Rest vom Haus angesteckt. Nie mehr Schaufeln.

8. Januar

Mir geht es gut. Ich mag die kleinen Pillen, die man mir dauernd gibt. Nehme an, daß es draußen sehr kalt ist und viel Neuschnee gefallen sein muß.

Warum sonst bin ich an das Bett gefesselt?


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